Nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 war das diesjährige Holocaust-Gedenken ein Geschehen, das vermutlich genauer verfolgt wurde als in früheren Jahren. Die Rede Marcel Reifs – Sport-Journalist und Sohn eines Holocaust-Überlebenden – fiel mir zunächst schlicht deshalb auf, weil sie in sozialen Medien preisend herumgereicht wurde. Erst heute, nachdem mir ein enger Freund die Rede geschickt hat, habe ich mir endlich die Zeit genommen, sie in Ruhe anzuhören. Die Rede hat mich berührt: Sie handelt im Wesentlichen vom Schweigen des Vaters, der dieses Schweigen unter anderem deshalb aufrecht zu erhalten scheint, weil er auf diese Weise das Leben der Kinder „im Land der Täter“ schützen möchte: Die Kinder sollen in ihren Lehrern, Postboten und weiteren Mitmenschen nicht die Mörder ihrer Vorfahren erblicken. Marcel Reif stellt dieses Schweigen als Möglichkeit eines versöhnlichen Neuanfangs dar, der insgesamt tatsächlich zu einer unbeschwerten Kindheit geführt zu haben scheint.
Es liegt mir fern, Reifs persönliche Erinnerung oder Andenken zu besprechen, geschweige denn zu kritisieren. Was ich mich aber gefragt habe, ist, warum diese Rede im Bundestag und darüber hinaus derart viel Anklang gefunden hat. Damit meine ich nicht, dass es nicht eine hörenswerte Rede ist. Wohl aber scheint mir in der Betonung des Schweigens etwas zu liegen, dem nachzugehen ist. Hier möchte ich nur ein paar Beobachtungen notieren:
- Schweigen war faktisch die wesentliche Strategie im nicht entnazifizierten Deutschland nach 1945. – Am Edelmut des Vaters ist hier nicht zu zweifeln; auch nicht am Wert der Erinnerungen, die Reif hier teilt. Dennoch fällt auf, dass die Strategie des Schweigens Täter und Opfer eint. Natürlich schweigen sie aus ganz unterschiedlichen Gründen. Doch das Schweigen ermöglicht die Versöhnung genauso sehr, wie es die nicht verurteilten Täter schützt. Wenn der deutsche Bundestag dieses Schweigen akklamiert, scheint er damit auch das Unter-den-Teppich-Kehren der deutschen Schuld zu akklamieren.
- Schweigen hilft vermutlich nicht in der Weise, in der es hier sollte. – Es ist viel über die Weitergabe von Traumata zwischen verschiedenen Generationen geschrieben worden. Es ist klar und verständlich, wie der Vater (laut Reif) hoffte, die Kinder vor einer Verdachtshermeneutik zu bewahren. Gleichwohl wissen wir, dass Verschweigen nicht verhindert, dass Schmerz, Angst und Traumata weitergegeben werden. Es gibt wohl keine richtige Antwort auf die Frage, wie mit solchen Erinnerungen umzugehen sei. Doch ist Schweigen beileibe nicht die einzige Möglichkeit. Das ist in einer persönlichen Geschichte nicht zu kritisieren, doch die Zuhörerschaft muss sich nach Alternativen fragen.
- Das Schweigen hätte die Rede unmöglich gemacht. – Das Nachdenken über Alternativen bringt schließlich auch die in der Rede etwas unterbelichtete Rolle der Mutter Marcel Reifs zur Geltung, die das Schweigen an einem bestimmten Punkt dezidiert gebrochen zu haben scheint. Es ist aber das Brechen des Schweigens, das die Reflexion wie auch das Nachdenken über den Vater eigentlich erst ermöglicht. In der Rede wird die Rolle der Mutter zwar gelegentlich betont, doch bleibt die Rolle des gebrochenen Schweigens unterbelichtet. Die zentrale Botschaft, die Reif in der väterlichen Aussage „Sei ein Mensch“ sieht, scheint sich zunächst aus dessen Schweigen zum Wohle der Kinder durch einen so ermöglichten Neuanfang – womöglich auch mit einem damit verbundenen Vergeben – zu ergeben. Aber hier bleiben Zweifel. Ist das Brechen des Schweigens durch die Mutter nicht zumindest genauso wichtig für das Durchdringen dieser Botschaft?
Zusammenfassend gesagt finde ich die Rede ebenso bewegend wie irritierend. Hier wird ein Weg beschrieben, der unumkehrbar und gut erscheint. Zugleich aber ist diese Erinnerung im Kontext eines Staatsaktes versöhnlicher als sie gerade heute vermutlich sein dürfte.
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