In diesem Video stelle ich mich kurz meinen Studierenden vor, indem ich etwas über meinen Zugang zur Philosophie, zum Lesen philosophischer Texte als Begegnungen mit Anderen sowie zum Überwinden von Hürden beim Arbeiten erzähle.
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Falls Sie Interesse haben, finden Sie hier eine automatisch generierte Transkription, die auf der Videoplattform der FernUni erstellt wurde, wo dieses Video mit Untertiteln gesehen werden kann:
Transkript*: Lenz über Lenz
*Bitte beachten: Das Transkript wurde automatisiert erzeugt und wurde nicht nachträglich gegengelesen oder korrigiert. Abweichungen vom Wortlaut können daher nicht ausgeschlossen werden. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an: inklusive-videos@fernuni-hagen.de
Hallo, mein Name ist Martin Lenz und ich bin Professor für Theoretische Philosophie an der FernUniversität in Hagen. Das bin ich erst seit einigen Monaten. Davor war ich in Groningen und davor in Berlin und anderswo. Und deshalb denke ich, es ist ganz hilfreich, wenn ich mich Ihnen ein bisschen vorstelle. Und wer sind Sie? Das kann ich natürlich nicht wissen, zumindest im Augenblick nicht. Und deshalb habe ich gedacht, es ist das Beste oder das Zweitbeste, denn das Beste wäre, dass wir direkt ins Gespräch kommen. Deshalb ist es vielleicht das Zweitbeste, dass ich Ihnen etwas über meinen Zugang zur Philosophie erzähle. Vielleicht interessiert Sie das ja. Und wenn Sie glauben, dass das kein guter Zugang ist, dann ist das vielleicht auch ein interessanter Ausgangspunkt für Reibung.
Gut, wie also bin ich hierher gekommen? Das heißt, wie bin ich zur Philosophie gekommen? Was mich immer fasziniert hat, waren Dinge, vor allen Dingen Texte, die ich nicht verstanden habe, dunkle Texte. Und davon, so sagt man, gibt es ja in der Philosophie reichlich. Typische schwierige Passagen oder ganze Werke, die schwierig zu lesen sind. Man weiß immer so gar nicht ganz genau, was mit schwierig eigentlich gemeint ist. Das ist nämlich recht unterschiedlich, je nach Tradition, in der diese Texte stehen. Aber wenn man jetzt erst mal als Leser frisch herangeht, dann ist eigentlich vieles in der Philosophie recht unverständlich. Und das hat, glaube ich, damit zu tun, dass man nicht so genau weiß, wovon es eigentlich abhängt, ob man etwas verstanden hat. Ich will das verdeutlichen an einem Kontrast. Wenn Sie eine Gebrauchsanweisung nehmen, dann haben Sie die Gebrauchsanweisung wahrscheinlich verstanden in dem Moment, in dem Sie in der Lage sind, das darin Gesagte umzusetzen, also das Radio einzuschalten, den Schrank aufzubauen, möglichst richtig rum. Wenn Sie das vollbracht haben, dann scheint das, was Sie da tun, dem Text irgendwie zu entsprechen und gerecht zu werden und darf als Verständnis gelten. Bei philosophischen Texten und auch anderen Texten, natürlich teils literarischen Texten, ist das ganz anders. Und das fand ich immer, immer sehr faszinierend. Einerseits ist es manchmal unklar, worum es überhaupt geht. Manchmal sind aber auch schon die Voraussetzungen schwierig. Ich habe dann vor allen Dingen zunächst mittelalterliche Philosophie studiert und hatte es oft mit solchen Texten zu tun. Das hier ist eine Inkunabel, ein sogenannter Wiegendruck aus dem 15. Jahrhundert, von einem Autor aus dem 14. Jahrhundert, Wilhelm von Ocken. Und da ist es schon schwer genug, das überhaupt zu lesen, weil viele Abkürzungen in diesem Text stecken. Wenn man also die Wörter nicht immer richtig versteht, bei Handschriften ist es noch schlimmer mit den Abkürzungen. Und dann muss man das Latein verstehen und dann muss man es vielleicht übersetzen. Ich weiß noch, wie ich meine erste Questio übersetzt habe, wie ich ganz stolz war, das geschafft zu haben. Es waren nicht viele, ein paar Seiten, ich hatte ein paar Tage daran gesessen. Und dann stellte ich fest, dass ich kein Wort verstehe von dem, was ich da übersetzt habe. Das Deutsch war schon durchaus lesbar, aber der Text war eben gespickt mit Terminologie, für die es auch keine Wörterbücher gibt und dergleichen mehr. Und da muss man ganz viele andere Texte lesen, um den Text, den man selbst übersetzt hat, überhaupt nur annäherungsweise zu verstehen. Das ist einerseits frustrierend, aber eben auch faszinierend. Und na ja, inzwischen habe ich versucht, aus dieser Not oder aus diesen Nöten eine Tugend zu machen. Und die Tugend liegt eigentlich darin, dass die Konfusion und das Unverständnis als etwas anderes zu sehen, nämlich als eine Möglichkeit zur Begegnung. Wenn ich etwas nicht verstehe, dann heißt das, dass mir wirklich etwas anderes, etwas Fremdes gegenüber tritt, das ich eben nicht sofort einordnen kann, sondern wo ich erst mal überlegen muss, was ist denn da überhaupt? Was sind da für Annahmen gemacht und so weiter? In dem Sinne kann gerade dort, wo ich erst mal gar nichts zu verstehen scheine, eine wirkliche Begegnung stattfinden, Meeting of Minds, wenn man so will. Weil ich einerseits überlegen muss, welche Annahmen diesen Text plausibel machen, also welche Annahmen der Autor, die Autorin vorauszusetzen scheint. Und auf der anderen Seite muss ich mich auch mal fragen, welche Annahmen ich mache als Leser, die mich daran hindern, etwas zu verstehen. Warum hindern die mich? Na ja, in dem Augenblick, in dem ich etwas nicht verstehe, scheine ich eine bestimmte Erwartung zu haben, die frustriert wird durch den Text. Der Text scheint etwas anderes tun zu sollen, als er eben tut, als er eben sagt. Und es ist eine bestimmte Annahme, die mich dazu zu bringen scheint. Und in dem Augenblick beginne ich, mich selber besser zu verstehen, weil ich begreife, dass ich bestimmte Voraussetzungen mache, die der Autor des anderen Textes eben gar nicht teilt oder zu teilen scheint. Und diese Art von Auseinandersetzung erlaubt dann eben eine wirkliche Begegnung und einen Einstieg in den Text. Ja, das ist sozusagen die Tugend, die ich versucht habe, aus dieser Konfusion zu machen.
“Begegnung” ist das Stichwort. Ich meine, natürlich hoffe ich, dass wir uns möglichst viel begegnen können. Ich hatte jetzt meine ersten Prüfungen und Seminare und das war alles sehr, sehr schön. Ich war wirklich erstaunt, freudig erstaunt, wie toll das erste Seminar war. Also die Leute waren ganz, ganz wunderbar vorbereitet, hatten alles gelesen und drängten darauf, diese Sachen jetzt zu diskutieren. Das alles lief über drei Tage, sehr nuanciert. Das war sehr spannend, einerseits zu sehen, aus welch verschiedenen Richtungen diese Texte eben angegangen wurden und andererseits auch, wie dann im Gespräch doch Gemeinsamkeit entstand und ein gemeinsames Arbeiten sich entwickelt hat, das eben sehr produktiv war. Bei den Prüfungsgesprächen, in mündlichen Prüfungen war es ganz ähnlich. Man spricht mit ganz unterschiedlichen Menschen und bekommt entsprechend unterschiedliche Zugänge zu den Texten, die alle für sich sehr interessant sind. Deshalb möchte ich natürlich Sie ermuntern, auch in die Seminare zu kommen und viel teilzunehmen und andererseits eben auch im Selbststudium diese Erfahrung der Konfusion produktiv zu nutzen.
Abschließend habe ich mir überlegt, möchte ich Ihnen vielleicht noch einen Tipp geben zum Arbeiten mit philosophischen Problemen und da kann ich wieder bei mir ansetzen. Ich habe lange Zeit einen Punkt nicht verstanden, eine Unterscheidung nicht verstanden, die mich sehr blockiert hat und sehr daran gehindert hat, produktiv zu schreiben, produktiv auch zu diskutieren und zu arbeiten, selbst noch zu Postdoc-Zeiten. Das ist der Unterschied zwischen den Phänomenen selbst, den Sachen selbst und dem, was man darüber sagt. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Ich habe immer gedacht, naja als Philosoph oder die Philosophen wenden sich eigentlich den Phänomenen oder Begriffen zu und wenn man das versucht zu tun, sich zum Beispiel fragt, was ist Freiheit und dann anfängt zu überlegen, merkt man sehr schnell, das ist uferlos. Man kann in alle möglichen Richtungen gehen, alle möglichen Aspekte beleuchten und es scheint gar keinen natürlichen Anfangspunkt, Ausgangspunkt oder prinzipiellen Punkt zu gehen, auf den man sich berufen kann. Diese Uferlosigkeit hat mich sehr blockiert. Ich dachte, naja, also wenn ich jetzt etwas dazu sagen will, dann muss ich erstmal schauen, was ich dazu eigentlich denke und das herauszufinden, wo soll ich anfangen. Und dann habe ich gesehen, dass die Auseinandersetzung eigentlich gar nicht beim Phänomen ansetzt, sondern bei dem, wo jemand etwas über dieses Phänomen sagt. Einen konkreten Satz, eine Passage, ein Argument. Wenn Sie sich jetzt nicht fragen, was ist Freiheit, sondern sich fragen, okay, da schreibt jemand, “Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang”. Dann können Sie sich konkret fragen, okay, was heißt das? Warum das? Was heißt jetzt Zwang? Etc. Also Sie können sich dann anfangen, ganz konkret mit diesem einen Satz auseinanderzusetzen und in ein Gespräch einzusteigen. Sich zu fragen, wie kann das motiviert sein, so etwas zu sagen? Oder ist das plausibel oder ist das unplausibel? Haben Sie einen anderen Begriff davon? Oder so etwas. Aber es steht dann um diesen Text herum, ein Gedankenraum, in dem Sie um diesen Text herum spazieren können. Und immer wieder, das ist das Entscheidende, darauf zurückkommen können. Sich also nicht einfach verlieren. Und deshalb ist es so wichtig, sich klarzumachen, dass wir eben nicht fragen, was ist Freiheit, sondern was hat jemand über Freiheit gesagt? Oder was sagen Sie in Ihrem Kopf selbst, wenn Sie daran denken? Aber wichtig ist eben, einzusteigen auf der Ebene des Gesagten. Dann merkt man auch, okay, also hier beginnt nicht das Explorieren eines uferlosen Phänomenraums, sondern hier beginnt ein Gespräch über etwas, das gesagt worden ist. Das war eine ganz entscheidende Einsicht, die sozusagen mein Arbeiten dann auch sinnvoll begrenzt hat und kanalisiert hat, weil man mit ganz konkreten Passagen zu tun hat und eben nicht ins Uferlose drängt. Und deshalb wäre mein Tipp eben einerseits diese Unterscheidung zu beachten und andererseits, wenn man zu arbeiten beginnt, sei es, dass man sich auf eine Klausur vorbereitet, sei es, dass man sich auf eine Prüfung vorbereitet, dass man von einem ganz konkreten Stück Text ausgeht und sich hier erst mal fragt, okay, was ist denn da gesagt, was kann ich darüber sagen? Vielleicht, was hat jemand anders darüber gesagt oder so? Ja, aber dass man sehr konkrete Ausgangspunkte hat, bei denen man beginnt und die einem auch erlauben, immer wieder da anzudocken. Das ist oft das, was Kohärenz schafft im eigenen Denken und auch Struktur.
Ja, vielleicht finden Sie diesen Punkt sogar kontrovers und da können Sie von dem Konkretgesagten ausgehen, um mir zu widersprechen. Das fände ich auch sehr interessant. Gut, in jedem Fall hoffe ich, dass Sie Freude haben hier am Studium und dass Sie auch aufs Lehrgebiet zukommen, das heißt nicht nur auf mich, das natürlich auch, aber eben auch auf mein wunderbares Team, von dem ich hier umgeben bin und dass Sie vielleicht schon der einen oder anderen Person kennengelernt haben. In jedem Fall wünsche ich Ihnen alles Gute, einen guten Start und freue mich auf Begegnung.