Leseszenen (1. Versuch): Wie ich zum ersten Mal „Philosophie“ las

Die Erinnerung ist amüsant. Es wird wohl das Jahr 1983 gewesen sein und ich also 13 Jahre alt, als ich mich eines langweiligen Nachmittags entschloss, in die Stadtbibliothek – oder soll ich „Stadtbücherei“ schreiben? Denn das Wort „Bibliothek“ dürfte ich damals noch nicht gekannt haben – zu gehen. Ich weiß gar nicht, warum ich hinging; vermutlich hatte mich meine Klassenlehrerin ermuntert, und ich hatte meine eifrigen Momente, wenn mir langweilig war. Ich ging also los und heute habe ich keine Idee mehr, wie das war, aber ich muss mich furchtbar gelangweilt haben. Auch der Weg war langweilig, langweilig und grau, grau, grau – und bestimmt hat es auch genieselt. Meine Erinnerung schwenkt aber immer sofort in die Bücherei, eines der ehrwürdigsten Gebäude der Stadt – jetzt ist natürlich eine Kneipe drin –, und ich sehe die langen Gänge mit den dicken und nicht ganz so dicken, aber wohlgeordneten Büchern genau vor mir.

Da war es, Buchstabe P, Philosophie! Das Wort verstand ich nicht, aber ich kannte es oder erkannte es wieder, denn ich hatte es in einem Interview eines Magazins gelesen. Da ging es um einen Musiker, der etwas „Philosophisches“ gesagt haben sollte. Ich fand den Musiker gut, also wollte ich jetzt wissen, was Philosophie ist. Meine Eltern kannten sich da auch nicht aus, aber die kannten sich sowieso mit nichts aus, außer mit Arbeiten gehen, jeden Tag, und immer ganz früh aufstehen. Jedenfalls ging ich jetzt in die Abteilung „Philosophie“ und schaute die Buchrücken entlang. Ja, ich konnte zwar lesen, schon lange, aber ich verstand dennoch nichts oder fast nichts. Gleichwohl – „gleichwohl“ hätte ich mit Dreizehn nicht mal buchstabieren können – gleichwohl also, gleichwohl fand ich die braunen und roten Buchrücken mit den silberfarbenen oder schwarzen Buchstaben sehr beeindruckend. Bücher können staubig aussehen, auch wenn gar kein Staub darauf zu sehen ist. Schließlich griff ich ein Buch heraus und las ehrfürchtig: Theodor – wer heißt denn so? – Theodor Litt: Einleitung in die Philosophie. Aha. Das war doch was. Ich schlug es gleich in der Mitte auf: „Zur Reflexion zweiten Grades“ stand da als Überschrift – kursiv, also musste es wichtig sein. Ich erinnere mich vage, was ich dachte, etwa so was: Reflexion – das ist sowas wie Nachdenken. Also Nachdenken über das Denken?

Hm, das klang interessant, also rätselhaft. Was das wohl heißen sollte? Naja, ermutigt durch den Griff zum Buch, aber immer noch ein bisschen gelangweilt, drehte ich mich um.

Die Bücher hinter meinem Rücken waren rot, größer und sahen schöner aus. Eine Gesamtausgabe: Sigmund Freud, den Namen hatte ich schon gehört. Ah, die Traumdeutung, das klang fast vertraut. – Schlecht sortierte Bibliothek, denkt ihr? Nein, aber hinter mir fing (für mich damals unbemerkt) schon die Abteilung Psychologie an. – Ich blätterte: Äußere Reizquellen (für Träume), las ich. Ich versuchte mir das zu erklären. Ja, wenn morgens der Wecker klingelt und ich weiterschlafend von einem Wecker träume, das muss eine äußere Reizquelle sein. Jetzt war ich mächtig stolz auf mich. Ich hatte was verstanden. Aber die Traumdeutung war mir definitiv zu dick, als Buch. Ich musste ja den ganzen Weg nach Hause laufen. Also zog ich ein anderes Buch raus. „Zwang, Paranoia und Perversion“ stand da drauf. Ich wusste nicht, was Paranoia ist, aber das Buch war nicht so schwer zu tragen und die anderen Wörter hatte ich schon mal gehört.

Das klang interessant. Ich war jetzt interessant, mit dem Buch unterm Arm. Ich nahm das Buch also mit und machte mich stolz und ein bisschen verwandelt auf den Heimweg.       

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Die Leseszenen sind ein Versuch, über verschiedene Leseerfahrungen zu schreiben – zur Vorbereitungs des im letzten Post genannten Leseprojekts mit Irmtraud Hnilica.

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