Wenn ich meiner Tochter Hannah vorlese, dann kommen mir oft Vorlesevorbilder in den Sinn. Das heißt, ich denke dann gleichzeitig an andere Leute, die gut vorlesen, und frage mich, wie ich da wohl abschneide. Ich bin recht reich beschenkt: Neben meiner Mutter haben mir im Laufe der Jahre auch Freunde und Freundinnen vorgelesen. Und dann gibt es da noch die Stimmen von professionellen Vorlesern (ja, meist waren das Männer), wie etwa die von Hans Paetsch, in meiner Erinnerung. Zwar versuche ich meist nicht, die Stimmen zu imitieren, aber sie helfen mir bei der Intonation und der Rollenverteilung …
„Falsch lesen! So ist das langweilig“, ruft Hannah aus. Da ich fast schon wieder selbst eingeschlafen wäre, zucke ich etwas schuldbewusst zusammen. Hannah kennt die meisten Geschichten tatsächlich im Wortlaut auswendig und verlangt regelmäßig, dass ich hier und da falsche Namen, Gegenstände oder Handlungen einfüge. „Hannah brachte alles durcheinander“, lese ich. Aber Hannah lacht nur höflich. Dass ich ihren eigenen Namen benutze, fand sie anfangs echt lustig, aber jetzt muss ich mir schon was Besseres einfallen lassen. Gleichzeitig soll ich die Geschichte auch noch aus dem Englischen übersetzen, denn ihr Patenonkel hat ihr die englische Originalversion der Katze mit Hut geschenkt. Hannah ist davon wenig beeindruckt und schlägt vor, ein anderes Buch zu versuchen „Also wieder Mamma Muh?“ Das finde ich wenigstens selbst amüsant. „Lieber Pettersson und Findus – es liegt da, unter der grünen Jacke.“ Beim Aufrichten merke ich, dass mein Fuß eingeschlafen ist; ich stolpere Richtung Jacke. „Das dauert ja ewig!“ nörgelt es mir hinterher. Hannah ist viel zu wach. Vermutlich sollte ich „die kostbare Zeit“ genießen, aber im Hinterkopf formuliere schon wieder an der E-Mail herum, die ich heute noch abschicken will. „Da ist kein Buch“, gebe ich zurück, während ich die Jacke etwas zu lange anstarre, „aber hier liegt Mamma Muh.” – „Na gut.“

„Kühe leben doch nicht in Baumhäusern!“ Während ich die Krähe intoniere, denke ich an Hans Clarins Stimme. Gleichzeitig huscht mir Der Souffleur, ein altes Lied von André Heller, durch den Hinterkopf: „Hat sich das Herz nicht irgendwo gebunden“ kräht Heller, den aus Faust zitierenden Souffleur intonierend; und in meiner Erinnerung knistert die Schallplatte dabei. – Hannah dreht sich und versetzt mir unabsichtlich einen kleinen Tritt. „Die kostbare Zeit“ tönt es mir aus allen Elternratgebern der Welt entgegen, während mich der Tritt ins richtige Lesetempo zurückruft. Ob ich mich wohl an diesen Moment erinnern und Hannah mal davon erzählen werde? In meinem Kopf herrscht eine große Kakophonie. Wieder funkt mir die E-Mail beim Sinnieren dazwischen. „Nicht einschlafen!“ – „Natürlich nicht! Möchtest Du noch was essen?“ – „Ich hab doch schon Zähne geputzt!“ – Wer hat dieses Kind bloß so gut erzogen, frage ich mich, als ich mich zum letzten Drittel der Geschichte aufraffe, die ich fast „auf Autopilot“ lesen kann. Dank Hans Clarin gelingt mir die Krähenstimme recht gut, aber ich weiß nie so richtig, wie ich die Kuh intonieren soll. Also nehme ich meine gewöhnliche Stimme und lasse sie etwas freudiger klingen. Statt des Baumhauses lasse ich die Kuh jetzt ein Flugzeug zusammenbauen, bleibe ansonsten aber beim Verlauf der Geschichte.
Hannah beginnt langsam regelmäßig zu atmen und ihr rechtes Bein zuckt leicht zusammen. Ich lese jetzt kompletten Unsinn, aber sie beschwert sich nicht. Ich mache das Licht aus; und während die Stimmen noch sachte nachhallen, will sich die E-Mail wieder in den Vordergrund drängen. Bevor ich selbst einschlafe, fällt mir noch die Stimme meines Vaters ein, wie er mit leicht angestrengtem Ton aus einer Zeitung vorliest.